Montag, 4. Mai 2015

Zu Borotba, Linke (in UA), und allgemein zur UA

Hallo Leute

Ich war lange nicht mehr aktiv, und werde diesen Blog in der gegebenen Form auch nicht fortsetzen, aber hin und wieder intensive Diskussionen wiedergeben, bei denen ich denke, das könnte den eine oder andere interessieren. Das werden "Briefwechsel" sein, also e-mails um genau zu sein, die ich anonymisiert hier dokumentieren werde.

PS: Falls ihr es chronologisch mögt, die urspüngliche mail findet ihr ganz unten, mit den Streifen an der Seite.

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Grüß dich Kollege / Kollegin / Kolleg_x

Es ist mal wieder eine lange mail geworden... Lies es bitte nicht zwischen Tür und Angel, sondern nimm dir die Zeit und guck die Videos an, bevor du entsprechend weiterliest. Ich denke, ne Stunde, anderthalb werde ich dir stehlen - oder schenken, je nach dem.
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Ich hab die mail als Fließtext geschrieben, und nachträglich gegliedert in drei (bzw. vier) Teile: Allgemeines, Praxis, Theorie und "Zugabe". Jeder Part für sich sind so fünf Minuten Lesestoff. Na gut, Theorie ist ein wenig mehr, vielleicht sieben, acht Minuten, aber so ist das halt mit Theorie...
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Wenn du hier und da das Gefühl hast, dir fehlen Infos und Hintergründe um meine Aussagen auf ihre Richtigkeit zu prüfen, so fühl dich herzlich eingeladen, diese meine mail an jemanden deines Vertrauens zu schicken (oder gemeinsam zu lesen), der sich in der Materie auskennt und dich berät oder so.
Nur tue es bitte ohne meine e-mail-Adresse, meinen Namen kannst du ruhig weitergeben.
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ALLGEMEIN
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Bevor ich in die Debatte gehe, will ich dir mal ein paar Videos vorstellen, (post-)sowjetische Pop-Kultur. Jenseits von links, rechts, etcetera, einfach nur populäre Erscheinungen, welche die soziale Realität des postsowjetischen Raums thematisieren.
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Zunächst die Schluss-Szene eines sehr bekannten sowjetischen Films von 1987: Assa. Ein Kultfilm, wie er im Buche steht, und vor allem die Schluss-Szene ist Kult. Du brauchst kein Wort Russisch zu verstehen, lass einfach die Bilder wirken, und guck zumindest die ersten vier Minuten. Das Lied heißt "Veränderungen", er singt: "Veränderungen, verlangen unsere Herzen."
https://www.youtube.com/watch?v=hnhvuVkov1E
(damit du nicht ganz ohne Infos dastehst: https://de.wikipedia.org/wiki/Assa_%28Film%29)
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Die Anfangsszene eines anderen Films: "Igla" (Nadel). Song: "Ein Stern namens Sonne" (der Clip setzt nach dem Vorspann ein, damit du nicht das ganze Lied hören musst, sondern die Atmosphäre des Films erahnen kannst)
https://www.youtube.com/watch?v=anURcEjDUbI#t=105
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[Beide Songs sind übrigens von der Band "Kino", die sowjetische Kultband der 80er. Kennt jeder, auch heute noch. Deren Lieder werden immer wieder neu interpretiert, hier ein aktuelles, zum allgemeinen Thema passendes Beispiel: "Wir haben alle den Verstand verloren"
https://www.youtube.com/watch?v=2AAR6nUV7VI
Du musst angemeldet sein, um es zu sehen (oder diese Sperre sonstwie umgehen), denn der Clip zeigt offen die Schrecken des Kriegs in der Ukraine. Und geh auf das Zahnrädchen unten rechts vom Video und aktiviere die englischen Untertitel.]
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Noch weit über die frühe post-sowjetische Zeit hinaus reicht das Wirken eines anderen Musikers, Egor Letov, Kopf der Band "Zivile Verteidigung" und die Schlüsselfigur des sibirischen Underground zu Sowjetzeiten. Seit den frühen 80er Jahren war er durchgängig aktiv, bis zu seinem Tod 2008.
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Der folgende Song ist eine Kritik an der Jelzin-Zeit (veröffentlicht '95), und der Clip ist den "Verteidigern des Sowjets" von 1993 gewidmet und unterlegt mit Bildern vom Aufstand damals in Moskau, den Jelzin blutig niederschlagen ließ. Diese Ereignisse wirken bis heute nach.
https://www.youtube.com/watch?v=DF7aqX63Mdo
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Letov hat übrigens zusammen mit Alexander Dugin und anderen die "National-bolschewistische Partei" gegründet, das Querfront-Projekt schlechthin. Wird zwar oft als rechtsextrem beschrieben, aber Querfront trifft es wesentlich besser, gerade auch wegen der Involviertheit Letovs.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jegor_Letow
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Die folgen Lieder sind alle aus den 2000-ern, höchstens fünf, sechst Jahre alt (bis auf eins), und da wäre es sehr sinnvoll, jemanden zu haben, der dir grob sagen kann, worum es im Text geht. Aber ich finde, die wirken auch ohne, schau einfach nur rein, mal kurz, mal lang, wie es beliebt.
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Vasya Oblomov hat vor vier Jahren einen Internet-Hit gelandet: "Ich fahr nach Magadan", ein sehr sarkastischer Song über ... naja, ich weiß gar nicht, wie ich es in zwei Worten sagen kann... Auf jeden Fall cool, und sozialkritisch.
https://www.youtube.com/watch?v=v687i_0w8Ss
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Hier noch andere Songs von ihm voller Sarkasmus. Über Putin: https://www.youtube.com/watch?v=op0DFh6m3Wc
Zur "Nationalen Idee": https://www.youtube.com/watch?v=ZFydt_97Ub4
Über den "Chef", also den Arbeitgeber: https://www.youtube.com/watch?v=-ohnEI2Vfv0
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Alles sehr coole Songs. Vielleicht kannst du über copy'n'paste des jeweiligen Titels den russischen Text zu den Liedern finden und diese durch google translator jagen, um zumindest einen Eindruck zu kriegen. Es ist echt sehr schade, wenn du kein Wort verstehst... (Vieles aber bleibt leider ohnehin unverständlich, wenn du wenig über Russland und russische Geschichte weißt...)
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Als nächstes eine post-moderne Ode an die "Helden der Arbeit" in der russischen Provinz, von Igor Rasteryaev: "Kombainyory" (wörtlich "Mähdrescher-Fahrer", aber diese phonetische Nähe zu "compañero" fehlt da total... Mal abgesehen davon, dass die soziale Realität in Deutschland eine ganz andere ist...). Zunächst der "offizielle Clip":
https://www.youtube.com/watch?v=RCJLnb6rZwc
Aber der eigentliche Hit ist, wie er das Lied vor einem Protagonisten des Songs vorträgt, der zu Tränen gerührt ist:
Du siehst, 6,5 mio Klicks is nicht ohne, ein äußerst populärer Song und eine explizit proletarische Position, die Millionen Russen aus der Seele spricht. "Diese Jungs ham sich nicht vor der Armee gedrückt und leben nicht das glamouröse Leben der Schwuchteln in Moskau" (frei zitiert) mag fragwürdig klingen, aber es hat nicht diese Ebene (das sind die einzigen zwei "problematischen" Stellen im Lied). Es geht nicht gegen Schwule, sondern gegen Yuppies in Moskau.
Gewidmet den "Wolgograder Traktoristen und den Packern vom Dorf", allen Leuten "die für wenig Geld schwere körperliche Arbeit verrichten müssen". Volksmusik im klassischen Sinn: popular music. Auch in Moskau populär ;)
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Die sowjetische Punk-Band "Gaza-Streifen" hat in den 80ern einen ähnlichen Song gebracht, "Plugi-Vugi" (Plug heißt Pflug, also in etwa "Pflugi-Woogie"), mit dem Unterschied, dass Rasteryaev die Landarbeiter idealisiert (was im aktuellen Russland irgendwo auch seine "Berechtigung" hat), während "Gaza-Streifen" ihre mehr oder weniger eigene Realität (und die von Millionen anderen) mit viel Ironie thematisieren.
https://www.youtube.com/watch?v=aFBKQS9dnz4
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Ein anderer bekannter Song von Rasteryaev ist "Russkaya Doroga" (russischer Weg). Es geht eigentlich um die Schlacht um Stalingrad, also eher patriotisch, aber in den nächsten zwei Clips wird "doroga" im Sinne von Straße daraus.
https://www.youtube.com/watch?v=q08J1x87sb8 (nur erste Minute oder so, sehr russische Bilder)
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Dieses Lied hat sich ein junger Pole für den Trailer zu seinem mehrteiligen Reisebericht ausgesucht
https://www.youtube.com/watch?v=w0hurJKOTpU
Der heißt Michał Pater und er hat damit einen Internet-Hit in Polen gelandet, und schon nach zwei, drei Wochen die Million geknackt. Auch die Reiseberichte (rechts in den Links, "Autostopem na Kołymę") haben jeweils 100.000-e Klicks.
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Der ist drei Monate lang durch Russland getourt, per Anhalter bis nach Magadan und zurück, und das mit nur 200 Złoty (40 € etwa) und zwei Konserven Dosenfleisch im Gepäck. Äußert sich sehr engagiert gegen die anti-russische Stimmung und hat eine kritische Haltung zur EU (er nennt sie konsequent "Euro-Soyus", was auf Polnisch unweigerlich Assoziationen zur Sowjetunion weckt), und trifft damit einen Nerv bei der Jugend in Polen.
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Nach diesem kurzen Einblick in die soziale Realität des post-sowjetischen Raums, komme ich nun zur Borotba.
Obwohl, ein Song noch, weil Sergei da mitgewirkt hat, vor über zehn Jahren: "Im weißen Ghetto"
https://www.youtube.com/watch?v=14yGDQwzLhI
Der Hip-Hopper wird zu Beginn von nem Metaller/Rocker angepöbelt: "Was machst du nur für Scheiß-Musik?! Das ist von und für die Nigger aus dem Ghetto." worauf der Hip-Hopper entgegnet: "Du lebst doch genau so, guck dich doch mal um, auch wir sind im Ghetto."
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Apropos Volkskultur - kennst du eigentlich dit hier? Deutsche Pop-Kultur, sehr populär, hör ich fast täglich auf Arbeit aus dem Mund von Kollegen :)
https://www.youtube.com/watch?v=ob0l82NNS28
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Hallo Flamingo,

ist ja nett, dass du dich so ausführlich meldest. Dann schreibe ich auch mal ein paar Hauptgedanken auf. Es tut mir leid, dass ich zu den Leuten, zu denen du die ganzen Einzelheiten schreibst, nicht viel sagen kann.

Der Diskussion über die AWU und den von dir genannten Autoren würde ich deswegen auch erst mal (erstmal!) ausweichen, weil ich weder russisch kann, noch mit den Leuten jemals direkten Kontakt hatte und nur gesehen habe, was die auf Englisch oder deutsch veröffentlicht haben. Ich kann also die Richtigkeit der von dir angegebenen Quellen nicht überprüfen.
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Darf ich dich fragen, wie du die Richtigkeit der Behauptung, die Leute von der Borotba wären "Agenten Putins", überprüft hast? Ich mein, immerhin hast du dich an der Kampagne gegen sie beteiligt. Auf welcher Grundlage?
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Und die von mir wiedergegebenen Inhalte kannst du sehr wohl überprüfen. Du bist mit einer Russin verwandt, du kannst sie fragen, auch sonst wird es in deinem Umfeld so einige geben, die unvoreingenommen meine Übersetzungen überprüfen können... Ich sehe da ehrlich gesagt kein Problem.
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PRAXIS

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Mich interessieren auch weniger die Intellektuellen und ihre internationalen Selbstverortungen, sondern die Praxis: Mit welchen Gruppen an der Basis könnten wir von hier aus kooperieren, und zwar mit der sozialen Frage im Mittelpunkt, und in dem Wissen, dass das östliche und das westliche Regime nur zwei Ausdrucksformen ein und derselben weltweiten kapitalistischen Ordnung sind.
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Gut, dann mal ein paar Worte zur Praxis:
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Selbst die pro-Maidan-Linken geben offen zu, dass sie als Linke auf dem Kiever Maidan nicht auftreten konnten, dass die Führung bei den Nationalisten lag. Der Akzent lag auf dem Kampf gegen die "Moskali" und auf "nationaler Revolution". Auch wenn die eigentliche Motivation der meisten "Hab die Schnauze voll von dieser Oligarchie" lautete, so fand diese ihren Ausdruck in der (von Nationalisten gelenkten) Projektion allen Übels auf Russland und SU.
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Der Anti-Maidan hingegen stellte soziale Aspekte und die Ablehnung dieses Nationalismus in den Vordergrund. Und zumindest in Kharkov und in Odessa war die Borotba eine der bedeutenden Kräfte. Es ging gegen Oligarchen als solche und gegen den Nationalismus des Euromaidan - dem Teile der Bewegung ihren eigenen Nationalismus entgegenstellten (welcher genau so ukrainisch ist, wohlgemerkt, wie der Nationalismus des Euromaidan), andere jedoch klassisch links argumentierten, u.a. Borotba.
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Während also auf dem Euromaidan die Tribünen den Nationalisten und den Parteien der "liberal-bürgerlichen" Opposition vorbehalten waren und die Linken nicht einmal Flugblätter verteilen konnten, "konkurrierten" auf dem Anti-Maidan Linke und "pro-russische" Nationalisten. Die Borotba konnte 1.000-e ihrer Zeitungen verkaufen und 10.000-e Flugblätter verteilen, und so linke Inhalte unters Volk bringen.
[Und deren Zeitung ist nicht der "Spartakist" oder so was, okay. Es gibt kein Analog in D'land. Vielleicht "linksruck" vor fuffzehn Jahren oder so - mal abgesehen davon, dass Borotba keine Trotzkisten sind, sondern post-sowjetische Marxisten/Leninisten. Borotba ist wesentlich cooler als linksruck es war, ich hab mal mit einem von denen zusammengewohnt und so einige kennengelernt... Kein Diss, die Leute warn in Ordnung, aber ich hatte so einige inhaltliche Differenzen.]
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Die Borotba hatte bis zum Maidan etwa 1.000 Mitglieder und konnte während des Anti-Maidan 1.000-e mobilisieren und 10.000-e erreichen, sie war Ukraine-weit vertreten. Sie hat eine unabhängige Ukraine eingefordert, also weder EU noch Zollunion mit Russland, und hatte eine klare demokratisch linke Argumentation, welche die soziale Lage der ukrainischen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellte, und in ihren Positionen auch immer die Eigentumsfrage stellte, Vergesellschaftung der Betriebe einforderte, usw.
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Die Pro-Maidan-Linke hingegen besteht im wesentlichen aus zwei Gruppen: "Linke Opposition" (Trotzkisten, etwa 30 Leute) und AWU (Anarchisten, unwesentlich mehr, vielleicht 50), und ist für den EU-Beitritt. Das hört sich in etwa so an: "Wir sind natürlich gegen den ökonomischen Part, wegen der sozialen Folgen, aber wir sind für die humanitären Werte der EU." (O-Ton eines Aktivisten der "Linken Opposition" bei einer Veranstaltung, wo ich war. Worauf Sergei konterte "Das bin ich auch, aber du kannst das eine doch nicht vom anderen trennen." Einen O-Ton der Anarchisten hab ich nicht, vielleicht kannst du mir einen schicken? Würd mich interessieren.) Während des Maidans war sie praktisch handlungsunfähig.
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Was also sind die Gründe dafür, dass die Anti-Maidan-Linke jetzt schlecht ist, und die Pro-Maidan-Linke aber gut? Gerade, wenn du die soziale Frage in den Mittelpunkt stellst, inwiefern war die Praxis der PML eher für eine Solidarisierung geeignet als die AML? Zähl mir mal bitte ein paar Punkte auf.
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Ich mein, auch folgendes sollte man nicht ausblenden: die einen haben sich daran beteiligt, eine explizit ökonomisch neo-liberale und politisch rechte Regierung an die Macht zu bringen und verteidigen diese jetzt, die anderen haben diese Regierung bekämpft.
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Von den pro-russischen Nationalisten wird übrigens die Borotba dafür mitverantwortlich gemacht, dass der Anti-Maidan in Kharkov und Odessa niedergeschlagen wurde - eben wegen ihres Versuchs, daraus eine all-ukrainische soziale Bewegung zu machen (was sie als Spaltung des Anti-Maidan betrachten), anstatt offensiv den Bruch mit den "Faschisten" in Kiev zu forcieren, wie sie es in Donezk und Lugansk gemacht haben.
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Denn die Borotba hat gezielt versucht, an das zweifelsohne vorhandene soziale Moment des Euromaidan anzuknüpfen und Vernetzungen mit am Maidan beteiligten sozialen Initiativen und anderen politischen Gruppen aufzubauen, und so den Anti-Maidan zu einer Fortsetzung des Euromaidan zu formieren. Sie sind nicht spalterisch aufgetreten, wie es die PML tat, indem sie die Borotba zu "Agenten Putins" deklarierte, und die Tatsache, dass sie neben Nationalisten am Anti-Maidan teilnahm, dazu nutzte, um aus den Borotba-Leuten verkappte Nationalisten zu machen, mit recht zufällig entstandenen Fotos etc. pp.
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Überhaupt: "Agenten Putins"... Warum? Die Borotba war eine der aktivsten und wegen ihrer Mitgliederzahl zudem die größte linke Gruppe in der Ukraine, die sich gegen den Putinismus geäußert hat. Die Anti-Putin-Proteste in Russland 2011 haben sie voll und ganz unterstützt. Sergei erwähnte ja die engen Kontakte zur "Linken Front", welche maßgeblich an der Organisierung dieser Proteste mit beteiligt war.
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Hier ein kurzes Video vom 16.2.2013, eine kleine Aktion vor der russischen Botschaft in Kiev zum Geburtstag von Sergei Udaltsov, einem der Anführer der "Linken Front", der wegen dieser Proteste im Knast sitzt.
https://www.youtube.com/watch?v=lDU1KsEPjYg
Sie fordern die Freilassung Udaltsovs und der anderen politischen Gefangenen. "Macht euch bewusst, dass Putins Regime insbesondere Leute mit linken Ansichten, mit sozialistischen und kommunistischen Überzeugungen, ins Gefängnis wirft."
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Dieses Dutzend Leute ist nicht viel, ja, aber es macht klar, dass die Borotba keine "pro-Putin'sche" Organisation ist.
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Und damit du nicht denkst, das sind nur n Dutzend Leute, hier ein Clip von der 1.Mai-Demo in Kiev 2013, ein recht professionel gemachter Zusammenschnitt, quasi als Werbe-Film für die Borotba:
https://www.youtube.com/watch?v=SnFjfNEpfvQ
Die Initiative zur Idee, diese Tänzerinnen ab min 1:00 zu engagieren, damit sie den Demozug anführen, geht auf Borotba zurück (die Idee als solche wurde kollektiv entwickelt). An der eigentlichen Demospitze hinter ihnen folgt der Gewerkschafter-Block (diese Fahnen sind keine Russischen, sondern die dieser Gewerkschaft), danach kommen Leute der Sozialistischen Partei, und am Schluss der Borotba-Block, etwa 100-120 Leute. Du siehst ja die Kurden an der Spitze, laut Sergei war die Borotba im migrantischen Milieu der UA die von allen linken Organisation am stärksten verankerte Gruppe. Die gezeigten Redner sind übrigens Sergei Kirichuk und einer der Gewerkschafter.
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Nur leider ist das Video in Deutschland nicht verfügbar... Du kannst vtunnel.com nutzen, wenn du es sehen möchtest, oder zig andere Dienste. Nur, guck es dir an, einfach, um mal das Bild, das du vor Augen zu haben scheinst, herauszufordern.
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Als Vergleich dazu die klassisch linke Truppe der KPU, von denen die Borotba bewusst Abstand genommen hat.
https://www.youtube.com/watch?v=TnDLcPtZ5vI
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Daneben gab es an diesem ersten Mai 2013 auch eine Demo der Anarchisten/Autonomen/Antifa, schwarzer Block mäßig, in etwa so groß wie die von Borotba, Sozialisten und Gewerkschaften.
https://www.youtube.com/watch?v=K0irA1H6PBc
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Und denk jetzt nicht, alle diese Leute im letzten Video hätten den Maidan unterstützt oder so. Ich weiß die Proportionen nicht, aber einige unterstützten den Anti-Maidan. Die hatten nur keine eigene Organisation, sondern taten es als Einzelpersonen, während die relativ große AWU die dir bekannte pro-Maidan-Position vertrat.
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Der Schwarze Block und die Borotba sind 2013 übrigens getrennt gelaufen, weil die Anarchisten keine Parteien dabei haben wollten und keine Flaggen mit Hammer und Sichel. Laut Sergei gab es da noch keinen großen, allgemeinen Bruch, die Anarchisten wollten halt einfach nicht mit Kommunisten und Sozialisten in einen Topf geworfen werden. Zwei Jahre zuvor haben Borotba, Anarchisten und andere die von der KPU unabhängige 1.Mai-Demo gemeinsam durchgeführt. Als erstes der Schwarze Block, dann der Frauenblock, als drittes die Borotba, wo die Kamera innehält, weil der Zug just in diesem Moment von Nationalisten angegriffen wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=kwcx_biq7Z4
Die Idee, diese Blaskapelle am Anfang zu engagieren, war übrigens auch eine Initiative der Borotba.

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Mich interessiert, wie sich Leute im Alltag organisieren und in wieweit die Linke, falls es eine solche überhaupt gibt, etwas praktisches macht, also die Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten unterstützt, sich in Lohn- und Einkommenskämpfe einmischt, Frauen sich organisieren usw.
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Ja, so was gibt es, das war auch immer integraler Bestandteil der Arbeit von Borotba - die sich derzeit nicht an der Organisierung solcher Projekte beteiligen kann, weil man deren Strukturen vollständig zerschlagen hat.
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Und die pro-Maidan-Linken waren massiv daran beteiligt, indem sie jegliche Solidarität westlicher Linker mit ihrer Kampagne untergraben haben. Das ist eigentlich das einzige, was ich denen echt übel nehme. Dieses nicht einmal mehr "unsolidarisch" zu nennende Verhalten.
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Deren konkreten inhaltlichen, "philosophischen" Positionen sind für mich ebenfalls erstmal nebensächlich, denn in ihrer Praxis haben sie außerordentlich aktiv dazu beigetragen, dass die "Linke" in UA derzeit nicht über Subkultur hinauskommt, und total zersplittert und marginalisiert ist.
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Statt dessen haben nun rechte Strukturen ein intensives Moment in solchen Projekten inne, gerade die Svoboda versucht, sich als außerparlamentarische Bewegung entlang solcher Projekte gesellschaftlich neu zu verankern...
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THEORIE

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Was ich mitbekommen habe ist ziemlich einfach: Die Awu ist pro Maidan, weil sie die Bewegung gegen Janukowitsch als soziale Revolte sieht,
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Und die Bewegung gegen das neo-liberale Programm der EU-Assoziierung, die zu massiver Deindustrialisierung und Verarmung führt, war keine soziale Revolte? Der Anti-Maidan hat immer die sozialen Folgen dieser Westorientierung im Auge gehabt und betont, sowohl die Rechten als auch die Linken, mit unterschiedlichen Akzenten jeweils.
Der Anti-Maidan wurde zwar bis zum Umsturz von den Yanukovich-Strukturen unterstützt und mitorganisiert (so wie auch der Euro-Maidan, nur halt von anderen finanzstarken und mobilisierungsfähigen Strukturen), aber danach entwickelte er eine wesentlich neue, eigene Dynamik. Von Yanukovich hatten so gut wie alle die Schnauze voll, die Bruchlinien und Widersprüche zwischen Euromaidan und Antimaidan lassen sich nicht auf ein "pro- und contra-Yanukovich" reduzieren, die Borotba betreffend schon mal gar nicht.
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Und wie gesagt, das soziale Moment des Euromaidan haben die Nationalisten gezielt umgelenkt in eine nationale Revolte. Sie waren bestimmend für Diskurs und Ausdruck, und haben keine Positionen zugelassen, die gezielt versuchte, dieses soziale Moment als solches in den Mittelpunkt zu setzen.
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Überhaupt, die EU-Annäherung. Was ist denn deine Position als Linker dazu? Wie sehr hast du dich damit auseinandergesetzt? Wie sehr ist dir bewusst, dass die Assoziierung in den ukrainischen Medien quasi wie eine Vollmitgliedschaft propagiert wurde, mit versprochenen "Blühenden Landschaften" und "Visa-freiem Reisen" etc pp? "Ein Land wie Polen werden" war mehr oder weniger die Vorstellung.
Die Leute wurden maßlos betrogen und belogen. Wie stehen wir als Linke dazu?
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Vor allem angesichts der Situation, dass einem Großteil der Ukrainer bewusst ist, dass die Versprechungen surreal sind, und die EU-Annäherung enorme soziale Probleme nach sich zieht. Die Frage nach der EU-Annäherung spaltet das Land, das ist eine Konstante, die man nicht ausblenden kann.
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44570/1.html
Im Süden der Ukraine sprechen sich aktuell 55% gegen die EU aus (37% wollen weder EU noch Zollunion, 18% sind für Zollunion), im Osten 62% (30 Zollunion, 32 weder-noch). Und das ist ein explizites "Weder-Noch", kein "Ich weiß nicht".
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Die Werte haben sich im Verlaufe des letzten Jahres extrem verschoben (Einzelheiten dazu im TP-Artikel), aber auch das muss adäquat analysiert werden (was ich an dieser Stelle aber sein lasse).
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Nebenbei: nur 28% der Maidan-Teilnehmer gaben an, wegen dem EU-Abkommen gekommen zu sein, trotz der Möglichkeit, mehrere Gründe zu nennen:
http://gorshenin.eu/researches/40_ukraine_today.html

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während Borotba sich als antiimperialistisch versteht
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Nein, der Akzent der Borotba liegt auf der sozialen Frage. Und auf eben dieser Grundlage haben sie die EU-Assoziierung kritisiert und abgelehnt - nicht wegen ihrer antiimperialistischen Position (die sie ohne Zweifel haben, aber keineswegs so, wie du es im Folgenden schilderst... Nochmal die Frage: Woher nimmst du die Geweissheit, die Positionen der Borotba verstanden zu haben?)

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und meint, deshalb den Krieg Russlands gegen die Westorientierung der Ukraine bagatellisieren zu dürfen.

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"Bagatellisieren", weil sie von einem Bürgerkrieg sprechen? Ich verstehe nicht, in welchem Sinne du das meinst...
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Es ist außerdem kein "Krieg Russlands gegen die Westorientierung der Ukraine", sondern ein Krieg der neuen ukrainischen Regierung gegen den Teil der eigenen Bevölkerung, welcher gegen die Westorientierung der UA ist (wobei ich nicht mal im Ansatz abstreiten möchte, dass RU den aktivsten Teil dieser Ukrainer im Donbass in mehrfacher Weise, u.a. militärisch, unterstützt).
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Ich denke, das in etwa trifft eher die Position der Borotba - wobei das meine eigene Position ist.
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Hier, guck mal, was für ne Angst die Kiever Regierung vor ihrer eigenen Bevölkerung hat:
https://www.youtube.com/watch?v=yk1ViGtq4v4#t=25
https://www.youtube.com/watch?v=t69ZR91YcRY
Das ist Odessa, hunderte Kilometer vom Donbass entfernt. Die Stadt ist im Belagerungszustand, das sind Bilder von gestern, 1.Mai, vorgestellt vom bereits erwähnten Anatoliy Shariy.

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In meinen Augen ist die Position Borotbas das Hauptproblem, weil sie eine falsche Analyse Russlands, nämlich aus der globale Gegnerschaft gegen die USa heraus ableitet, Während sie zum sozialen KOnflikt in Russland selbst wohl keine Meinung, also keine Strategie hat.
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Nochmal: Wie kommst du zu solchen Aussagen? Sorry, aber das ist totaler Quatsch.
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Die Borotba ist Teil der Linken des ex-sowjetischen Raums, und hat daher enge Beziehungen und gute Kontakte zur Linken in Russland. Sie hat sehr wohl eine Meinung zur sozialen Situation in Russland, und ist eingebunden in die allgemeine Strategie der Linken im post-sowjetischen Raum.
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Oder passt dir die post-sowjetische, bzw. russische Linke insgesamt nicht? Hälst Kagarlitsky, rabkor.ru, Leviy Front, etc. pp. gleichfalls für "Agenten Putins"? Scheint ja hipp zu sein in Teilen der deutschen Linken:
https://linksunten.indymedia.org/de/node/122207 (lies das, samt Kommentaren. Is nicht viel)
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Dieser Autor (angeblich ein Kollektiv), "eugen1979", ist einer der Hauptakteure in dieser Kampagne gegen die russische (und auf Russland orientierte) Linke. Er ist im Grunde sogar der einzige, den ich kenne, der explizit im linken Rahmen aktiv ist, und die allgemein in der deutschen bürgerlichen Presse (den "Lokalausgaben der NATO-Pressestelle") zu findende Position für dieses spezielle Publikum wiederkäut, indem er als "Übersetzer" sich eine Autorität gibt, welche in der Lage sei, die "Sprachbarriere" neutral und objektiv zu überbrücken.
(Welche dann von anderen unkritisch - weil ohne Möglichkeit, die Infos zu prüfen - weitergetragen wird.)
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Dabei arbeitet er sehr intensiv mit Falschbehauptungen, Strohmann-Argumenten, und weiteren rhetorischen Kniffs. Das ist ein Arschloch. Solltest du ihn kennen, richte ihm das bitte aus. Denn er beschäftigt sich anscheinend mit nichts anderem, als die Spaltung der Linken zu forcieren und andere Linke zu diskreditieren.

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das wäre nämlich die entscheidende Frage. Was tut die Linke dazu, um die Leute in ihrem sozialen Alltagskampf zu unterstützen und eine Kampffront herzustellen?

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Sieh's mal so: Die Bedingungen für soziale Konflikte in UA und RU sind nahezu gleich. Diese beiden Länder ähneln sich strukturell sehr, durch die gemeinsame Geschichte in der Sowjetunion, und soziale Bewegungen haben es ungemein einfach, sich aufeinander zu beziehen. Die Lebensrealität ist mehr oder weniger ein und die selbe.
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Was für Gemeinsamkeiten hat die UA mit der EU? Welche Synergien könnten potenzielle soziale Konflikte entfalten? Ich wüsst gern mal ein paar Beispiele, da - wie ich finde - die Linke selbst innerhalb der EU nicht in der Lage ist, Synergien zu entwickeln und zu nutzen. Ganz aktuell, Griechenland, und die Rolle der deutschen Nationalökonomie, ist eine große Niederlage gerade der deutschen Linken!
Quatsch: Niederlage... so etwas setzt Kampf voraus... das wird ja nicht einmal thematisiert!
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Was während des letzten Jahres passiert ist, ist dass die Linke in UA auf das pro-westliche Element reduziert, ja, geradezu marginalisiert, und die Linke in RU praktisch isoliert wurde.

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Für mich ist es so angekommen, dass Borotba als verlängerter Arm des Putinismus in der Linken der Ukraine agiert.
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Geh mal postmodern dekonstruktivistisch ran, und analysiere die Strukturen dieser Wahrnehmung. Die Borotba hat mit dem Putinismus nichts zu tun.

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Jede Parteinahme für den einen oder anderen Imperialismus wirkt sich aber als Spaltung aus, während wir doch vom gemeinsamen Kampf der Klasse gegen das Kapital, egal welcher Richtung, ausgehen. Diese Ost-West-Spaltung war schon immer falsch für die Linke und ist es heute wieder und erst recht.
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Mach dir bitte klar, dass es die Pro-Maidan-Linke ist, oder zumindest Teile davon, welche diese Spaltung forciert. Sie sind es, welche die Westorientierung propagieren.
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Es ist ehrlich erbärmlich, dass Teile der Pro-Maidan-Linken sich hinter die aktuelle Kiever Regierung stellen, ihr Handeln mit linker Rhetorik rechtfertigen, jegliche kritischen Stimmen als "Putin-Versteherei" oder gar "Putin-Agententum" diskreditieren, und sich zugleich in ihrer selbstgefälligen subkulturellen Marginalität sonnen. Anstatt die im Wortsinne brennende soziale Lage im Land breitenwirksam zu thematisieren, reproduzieren sie den Hass auf die "pro-russisch" Orientierten, indem sie deren Wirken zur "Reaktion" erklären, und behaupten, die "Faschisten" säßen in Donezk, nicht in Kiev. Und zugleich ungeheure Energien darauf verwenden, pauschal alle, die sich positiv auf die Rebellen beziehen, an den Pranger zu stellen, und auch explizit den Feldzug Kievs verteidigen und für richtig halten:
https://libcom.org/news/when-patriotic-anarchists-tell-verity-02072014 (auf Englisch übersetzte Facebook-Einträge eines Aktivisten der AWU)
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Donezk ist ne Millionenstadt, und sie funktioniert! Die gesamte Infrastruktur wird enorm vom Willen der donezker Bevölkerung getragen und so überhaupt erst ermöglicht. Das ist ein wesentlich überzeugenderes Beispiel von Selbstorganisierung, als die (durchaus zu Recht) viel gefeierte Selbstorganisierung des Protests auf dem Kiever Maidan.
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Nochmal zur Borotba. Sie hat eine klassisch internationalistische linke Position. Mag manchem hierzulande altbacken vorkommen, aber die Borotba ist viel näher dran an der sozialen Realität der Ukrainer als die ukrainische "Hipster-Linke" - die zwar aussieht und redet wie wir, weswegen wir ihr größeres Vertrauen schenken, letzten Endes aber über das ungefährliche Nischendasein eines Exoten nicht hinauskommt.
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Mach dir mal bitte klar, dass wir uns in diesen "Hipster-Linken" spiegeln. Diese orientieren sich an uns und unseren Positionen, unseren Erfahrungen. Wenn wir uns total unkritisch auf sie beziehen, beziehen wir uns eigentlich auf uns, auf unsere Realität, und blenden die spezifische Situation im post-sowjetischen Raum dabei aus. Das ist eine Form von unverstandener Ignoranz und Arroganz von Teilen der deutschen Linken. Eine Art "kolonialer Blick" sogar.
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Berücksichtige dabei auch das (post-)sowjetische Niveau an Gebildetheit. Mir scheint oft, das ist Leuten hierzulande wenig bewusst, wie gut ausgebildet die Leute in Osteuropa sind.
Das zeigt sich u.a. auch folgendermaßen: Ich kenne gut ein Dutzend Leute in Moskau recht gut, und vielleicht noch drei, vier Mal soviele flüchtig, aber ich kenne nicht einen politischen Aktivisten (na doch, aber erst seit einem Jahr etwa, blenden wir die mal aus). Die große Mehrheit meiner Bekannten hat dennoch politische Haltungen und Überzeugungen, und kann diese adäquat vortragen und komplexen Argumentationen folgen. Das Niveau an politischem Interesse ist weiter, breiter ausgeprägt als hier, zugleich aber sind die gesellschaftlichen Gruppen, für die Politik einen Mittelpunkt im Alltag darstellt, um einiges kleiner als hier.
Ich war noch nicht in Kiev, aber das Gesagte gilt z.B. auch für Warschau, und ich hab so einige Ukrainer in meinem Leben kennengelernt, das waren alles intelligente Leute im oben beschriebenen Sinn.
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Da unsere Schablonen von "links" und "rechts" etcetera anzuwenden, erklärt viele Phänomene kaum, es wäre auch wieder nur ein total verzerrtes Spiegelbild deutscher sozialer Realität.
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Und vor allem nicht zu vergessen, der quasi "ewige" Konflikt zwischen Anarchisten und Kommunisten. Ich bin selber Anarchist, seit frühster Jugend schon, und ich sag mal so, jetzt nur thesenhaft, ohne es zu vertiefen:
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Bakunin hatte Recht, wenn es ums 19. Jahrhundert geht, und um Gebiete außerhalb Westeuropas, aber im 21. Jahrhundert sind die Bedingungen weltweit wesentlich näher an Marx dran. Bakunin ist outdated (bis auf den Kerngedanken, den man auch bei Marx findet).
Marx kannte die Bedingungen in Osteuropa kaum, hat sich erst spät damit beschäftigt, und zwar so intensiv, dass er am Kapital nicht weitergearbeitet hat, und statt dessen Engels die Bände 2 und 3 nach Marx' Tod veröffentlichte. Marx' Analyse hat lediglich die industrialisierte Gesellschaft seiner Zeit in Westeuropa [!] vor Augen gehabt.
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Ein sehr spannendes Dokument dahingehend sind die Briefentwürfe an die russische Sozialrevolutionärin Vera Zasulich
http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_384.htm
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Die ukrainischen Anarchisten kämpfen die Schlachten von vor hundert Jahren, aber diese Schlachten sind von uns verloren worden, es gibt kein zurück. Nur aus diesem "Grund" lehnen sie die Borotba (und allgemein Kommunisten und Sozialisten) ab und behaupten, sie hätten "autoritäre Programme", wären "Stalinisten", etc.
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Das stimmt aber nicht. Die Borotba ist einfach eine den post-sowjetischen Strukturen entsprechende, aus eben diesen Strukturen heraus gewachsene, unabhängige ukrainische linke und marxistische Jugendorganisation. Weder wollen die "zurück in Stalins Reich" oder so was, noch gibt es strukturelle, materielle Bedingungen, die so etwas überhaupt ermöglichen würden. Die Ukraine ist schon lange kein quasi mittelalterlicher Bauernstaat mehr, die Agrarfrage ist schon lange geklärt.
Ich bin übrigens immer wieder erstaunt, wie wenig Linke die materiellen Bedingungen sozialer Realitäten analytisch zu erfassen versuchen, und wie unhistorisch sie teilweise an gewisse Phänomene rangehen... Gerade die Agrarfrage (oder "ursprüngliche Akkumulation") ist von zentraler Bedeutung.
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Die "Angst" der Anarchisten ist sowohl subjektiv (Borotba hat keine stalinistischen Positionen) als auch objektiv total unbegründet. Sie ist einfach Folge ihres ideologischen Dogmatismus' und ihrer analytischen und theoretischen Schwäche.
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Also, ich sag das jetz einfach mal so, ich will mich unbedingt mal mit ein paar von denen unterhalten, aber das, was ich bisher gelesen habe, legt diesen Schluss nahe. Die Leute von der Borotba, die ich bisher kennengelernt habe, sind hingegen alle theoretisch gut geschult und äußern sich mit hoher analytischer Schärfe.
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Und auch wenn ich natürlich so meine Probleme mit Leninismus habe: erstens fand ich nicht einen der Borotbisten dogmatisch, und zweitens ist der Leninismus nun mal direktes Erbe des post-sowjetischen Raums. Und zwar in einem sehr breiten Sinne, den ich hier nicht weiter anreißen will. Gerne im Gespräch.
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Wie gesagt, die Borotba konnte relativ viele Leute mobilisieren, hatte viele Kontakte und war gut vernetzt. Weit über die Ukraine hinaus, nicht bloß nach Osten hin. Dir ist bekannt, dass die Anti-Borotba-Kampagne gezielt genutzt wurde, um den linken Flügel in der Links-Partei unter Druck zu setzen. Was soll das? Sind Hunko, Gehrcke, Dağdelen, Wagenknecht, Lafontaine und so weiter jetzt unsere Hauptfeinde oder was?
Es ist so richtig scheiße, was in der deutschen Linken vor sich geht, und es gibt so gut wie keine Diskussionen uber die (vor allem: Denk-)Strukturen, welche dem zugrunde liegen...
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Na egal, zurück zur Borotba. Die hatte durchaus Potenzial, das war eine recht junge Organisation, sowohl als Organisation als auch von den Mitgliedern her. Das ist jetzt komplett weg. Zersplittert. Und die PML ist total marginalisiert, und vom "Wohlwollen" der wesentlich breiter und aggressiver aufgestellten Nationalisten, und dem Schutz durch staatliche Institutionen abhängig. Hier Bilder vom 1.Mai 2015, sie schreiben von "nahezu 150 Teilnehmern" (wie im Video oben zu sehen, waren es 2013 etwa vier Mal so viele!)
http://nihilist.li/2015/05/01/anarhistskij-pervomaj-v-kieve-sostoyalsya/
http://nihilist.li/2015/05/02/u-kiyevi-vidbuvsya-anarho-pershotraven/
und erwähnen am Schluss (2. Link), dass "die Kolonne nach der Demo auf aggressive Ultrarechte traf, die es für nötig hielten, die Vertreter_innen der Arbeiterklasse und ideen-mäßigen Nachfolger der ukrainischen Makhno-Bewegung anzugreifen, doch die Demoteilnehmer konnten den gewalttätigen Konflikt vermeiden."
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Kurz: Die Bullen haben sie beschützt. Ich find's fast schon peinlich, dass sie das nicht so sagen, sondern "dem gewalttätigen Konflikt aus dem Weg gehen / entgehen" schreiben...
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Im eher "pro-russischen" Kharkov hingegen haben sie den 1.Mai-Umzug verboten, und Bullen und nationalistische Jugend vertrieben quasi gemeinsam die wenigen älteren Leute, die es trotzdem für richtig und notwendig hielten, an diesem Tag "ihre Solidarität mit allen Arbeitern auf der Welt zum Ausdruck zu bringen."
https://www.youtube.com/watch?v=dGeg1QC45B4
"Was ist denn daran schlecht: "Frieden, Arbeit, Mai"? Was gibt es gegen diese Losungen zu sagen angesichts abertausender Arbeitsloser. Arbeit. Und Frieden. Sie brüllen "Ruhm" angesichts tausender Tote. Was ist daran ruhmreich?" - "Aber sie wissen doch, dass der Umzug verboten wurde" - "Na und?! Ich hab im Gericht gearbeitet, dieses Verbot ist nicht richtig. Dass die aus Banderstadt uns vorschreiben, wie wir leben sollen... Die Ukraine lebt auf Knien."
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Ein wenig gekürzt die Meinung des Herren ab 3:15 etwa. Später (ab ca 5:30) kommt ein Aktivist des Euromaidan zu Wort (ich kenne das Gesicht, aber kann ich grad nicht zuordnen) und rechtfertigt das Verbot, weil eine "pro-russische" Veranstaltung zu erwarten sei, und man verpflichtet sei, den Frieden zu schützen und eine "Kharkover Volksrepublik" zu verhindern...
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Die "pro-russische" Jugend in Kharkov kann sich nicht einmal im Ansatz erlauben, zu so einer Veranstaltung zu gehen, einfach wegen der Repression...
"Das "blutige Regime Yanukovich's" ist weg, ein Hoch auf die Freiheit und Demokratie!"
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Weißt du, man kann durchaus ernsthaft vertreten (und ich z.B. würde das tun), dass es Teile der Pro-Maidan-Linken sind, die als verlängerter Arm des EU-Imperialismus in der UA agieren, und nicht die Borotba als angeblich verlängerter Arm des RU-Imperialismus.
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Die PML ist sich ihrer Funktion als "nützliche Idioten" des EU-Imperialismus viel zu wenig bewusst, und wir als deutsche Linke haben weder Grund noch Anlass, uns unkritisch auf sie zu beziehen und deren Abgrenzungen und Spaltungen hier zu reproduzieren.
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Versteh mich nicht falsch. Diese Leute verdienen unsere volle Solidarität! Nur sollten wir uns vor unbedachten Kurzschlüssen in Acht nehmen, und unkritisch deren Positionen übernehmen.
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"ZUGABE"
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Das folgende passte nicht so richtig in den Fließtext. Hatte es zwar so geschrieben, weil ich so ziemlich auf jeden Aspekt, den du ansprachst, eingegangen war, entschied mich dann aber die mail neu zu strukturieren, und diese Sachen an den Schluss zu schieben.

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Mir geht es  vorher noch um etwas ganz grundsätzliches. Erstmal die Geschichte der SU/des Leninismus und des Stalinismus und heute des Putinismus: Welche Kontinuität gibt es in den Sicherheitsapparaten? Welche Täter aus der Stalinzeit wurden verurteilt? In meinen Augen sind die Mörder aus der Stalinzeit niemals vor Gericht gestellt worden, bis auf einige wenige Spitzenleute, und das wirkt sich bis heute tief die Gesellschaft als unverarbeitete Traumatisierung aus. Putin stammt aus dem Geheimdienst und dementsprechend sind auch die Formen der Politik. Dazu kommt noch die fehlende Diskussion hier in der Linken um den HUngermord 1932/33, der noch mal ein riesiges thema ist. Ich würde den Mord an den Ukrainern nicht  isolieren, es wurden ja auch über eine Million Menschen in Kasachstan umgebracht, sondern als Teil einer Strategie der Modernisierung für den Industrieaufbau sehen, wo das alte Bauerntum in die Knie gezwungen und als Arbeitskraft mobilisiert werden sollte.
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Das ist ein sehr breites Feld, das du da aufmachst, schriftlich nicht zu beackern. Meld dich, wenn du mal wieder in Buxtehude bist, und wir unterhalten uns.
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Nur so viel: Der Holodomor war kein Massenmord an Ukrainern (oder Kasachen), sondern einer an Bauern, und zwar unter anderem auch an russischen Bauern (warum fehlen die Russen bei dir? Stalin ließ nur Ukrainer und Kasachen umbringen oder wie?)
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Darüber hinaus, dass es kein ethnisches Moment im Holodomor gibt, fällt auch jegliche (nachträgliche und politisch motivierte) Ethnisierung schwer, da die betroffenen Menschen eine wesentlich von der heutigen zu unterscheidende Identitätsrealität hatten.
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Außerdem scheint dir die antisemitische Ebene nicht bewusst zu sein: Sowohl russische als auch ukrainische Neonazis betonen gerne die Involviertheit von Juden - die Bolsheviki als Ausdruck des angeblichen jüdischen Versuchs, die Weltherrschaft an sich zu reißen, welche mit dem Holodomor ihrem Hass auf alles Slawische (bzw. nichtjüdische, arische, was weiß ich) freien Lauf gelassen hätten, etc. pp.
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Die Sowjetunion, gerade auch zur Zeit Stalins, war multiethnisch und multinational in jeglicher Hinsicht. Die bei dir durchschimmernde Gleichsetzung von Russland und SU ist historisch nicht haltbar und politisch äußerst problematisch, gerade aus linker Perspektive.
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Auch deine Kontinuitätssetzung von Lenin über Stalin zu Putin ist merkwürdig. An sich, denn es impliziert eine tendenzielle Gleichsetzung von Stalinismus und SU (in diesen 75 Jahren ist recht viel passiert...), und für sich, denn was ist mit Poroshenko? Da keine Kontinuität? Noch deutlicher wird es beim "Unterschied" von FSB (russicher KGB-Nachfolger) und SBU (ukrainischer KGB-Nachfolger), denn letzterer steht wesentlich deutlicher in der Tradition seines sowjetischen Ursprungs. Ideologisch nicht, ja, aber strukturell. Kannst du täglich in ukrainischen Medien verfolgen...
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Nur drei Beispiele: Vor wenigen Tagen verkündete der Vorsitzende der Kharkover Gebietsadministration Igor Rainin, dass man über 1.000 Terroristen im Kharkover Gebiet schon eingeknastet habe. Nur im Kharkover Gebiet!
http://www.ukrinform.ua/rus/news/raynin_rasskazal_skolko_terroristov_zadergali_v_harkove_1738455
Glaubst du ernsthaft, dass es sich um Terroristen handelt? Nur so rein von der Logik her gedacht... Vergiss es, das sind alles Leute, die einfach andere Ansichten haben, als sie die Kiever Regierung und ihre Medien propagiert. (Wo sind die linken Organisationen, die sich diesen Gefangenen widmen?)
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Auch vor wenigen Tagen hat der SBU einen Journalisten in Odessa verhaftet - nur für seine Ansichten! Der hat nichts gemacht, außer "pro-russisch" eingestellt zu sein und dementsprechend zu schreiben...
http://dumskaya.net/news/sbu-zadergala-v-odesse-organizatora-narodnoj-rad-046099/ (Odessiter Blatt)
http://korrespondent.net/ukraine/events/3509477 (landesweites Medium)
Insgesamt fünf (zwei davon offiziell weder bestätigt noch dementiert) Aktivisten des Anti-Maidan wurden an diesem Tag verhaftet.
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Ich könnte diese Liste noch weit weit fortsetzen, statt dessen hier etwas älteres auf Deutsch: über einen pro-Maidan Journalisten, der jedoch zu viel "Verständnis" für die "Terroristen" aufbrachte und schließlich zum Verweigern der Einberufung in den Bürgerkrieg aufrief... Wofür er im Knast landete.
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44105/1.html

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Das ist deswegen ein bisschen interessant, weil der Maidan ja erst mal eine soziale Revolte war, (von wem auch immer getragen,  die dann aus  Russland heraus als Bedrohung seiner eigenen Herrschaft im Inneren verstanden wurde,
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Der Maidan war nie eine Bedrohung für die innere Situation in Russland. Wie kommst du auf so was? Und es war in erster Linie eine "nationale" Revolte, welche zwar ihre Kraft und Massenhaftigkeit aus der sozialen Realität gezogen hat. Betont aber wurde das nationale, nicht das soziale.
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Russland hatte außerdem schon seinen "Maidan", im Oktober 1993 in Moskau.
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Die Ukraine steckt im Grunde bis heute im "Transformationsprozess" der 90-er Jahre, welche Belarus (paradoxerweise indem dort die sowjetischen administrativen Strukturen reaktiviert wurden, jedoch ohne sowjetische Ideologie) und Russland (im Laufe der Putin-Administration, ohne das jetzt weiter auszuführen oder zu bewerten) mehr oder weniger hinter sich gebracht haben.

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und  mit einer "Ethnisierung" also den gesteuerten Manövern aus Moskau zerlegt wurde auf der ethnischen Schiene, Diese ostukrainische Revolte hat natürlich auch etwas eigenes, aber wesentlich sind die Raider, also entwurzelte Halb- oder Ganz-Faschos, die aus Russland kommen. Die örtliche Bevölkerung mit der komplexen Geschichte und einer Angst vor der Deregulierung der Großbetriebe hat sich ja weitgehend herausgehalten und sich nicht  in dem Maße, wie vielleicht von Moskau gewünscht, gegen Kiew mobilisieren lassen.
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Keiner hat Bock auf Krieg. Keiner. Abgesehen von den Nationalisten, auf beiden Seiten.
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Dennoch ist die Stimmung im Süden und vor allem im Osten der Ukraine recht eindeutig gegen Kiev, die "pro-russischen" Proteste nach dem Putsch (denn nichts anderes war es) waren durchaus groß und beeindruckend.
https://www.youtube.com/watch?v=omhSwi3bM9s
Ein diesen Protesten gewidmeter Hip-Hop-Song. Zu Beginn Bilder aus Donezk, ab 1:25 folgen: Lugansk, Gorlovka, Kramatorsk, Slaviansk, Mariupol, Kharkov, Donezk, Odessa, Kherson, Dnepro-Petrovsk, Nikolaev.
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Und beim aktivsten Teil der Ukrainer, die gegen die Kiever Regierung ist, den Rebellen im Donbass, hat die absolute Mehrheit einen ukrainischen Pass, und keinen russischen, mindestens 80 bis 85 Prozent oder so. Die Mobilisierungen jetzt während des Waffenstillstands und die Ausbildung neuer Rekruten wird das lokale Moment noch massiv anschwellen lassen.
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Und die Ethnisierung des Konflikts geht von Kiev aus, nicht von Moskau. Es ist die Kiever Seite, die gegen diese "pro-russisch" orientierten Ukrainer hetzt und sie als "Terroristen" verfolgt. "Watniks, Moskals, Luganda, Donbabwe" ist fast schon die offizielle Sprachregelung, wenn es um diese Menschen geht. Der Chauvinismus gegenüber einem großen Teil der ukrainischen Bevölkerung geht von Kiev aus, nicht von Moskau (bzw. Donezk).
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Dies sage ich nicht wegen meiner Bekanntschaft mit Sergei oder so was, sondern weil ich seit über einem Jahr regelmäßig die ukrainische Öffentlichkeit verfolge, über online-Medien, vor allem auch lokale, und auch was sich in sozialen Netzwerken so abspielt. Ich brauche keinen "eugen1979", der mir die nötigen Infos vorfiltert und interpretiert.
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Hier mal drei Beispiele, die auch du verstehst, und überhaupt jeder, die kein Russisch spricht, weil es visuell ist:
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1. https://www.youtube.com/watch?v=WHEynk94RrU
Shariy leitet ein mit: "Gestern verfolgte ich eine von Millionen geguckte Talkshow, bei der zwei Staatsbedienstete von "Lugandanern" und so weiter redeten. Dieses Video widme ich denen: Habt ihr schon mal eine solche Ansammlung von Alkoholikern, Down-bassern, usw gesehen?" - und ab 00:30 kommen Bilder aus der Donezker Oper.
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2. https://www.youtube.com/watch?v=1xj3xbAvIfI
Nach Berichten über das Elend im Donbass: leere Regale in Supermärkten und Hunde- statt Menschenfutter in den Tiefkühltruhen (https://www.youtube.com/watch?v=zVk2gcGFF04#t=187), bat Shariy Bekannte in Donezk, doch mal die Realia zu filmen, und diese Aufnahmen stellt er denen aus dem ukrainischen TV entgegen.
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3. https://www.youtube.com/watch?v=VSy7sin-zNo
Weil es oft heißt, in den Volksrepubliken seien sie anti-ukrainisch, und dass man Leute einknasten würde nur dafür, dass sie Ukrainisch sprechen, zeigt Shariy Bilder von der "merkwürdigerweise von den ukrainischen Medien verschwiegenen Heldentat von Patrioten, die es schafften, sich auf die Bühne der Feierlichkeiten zum 1.Mai in Donezk durchzukämpfen": eine auf Ukrainisch singende Folklore-Gruppe. Shariy danach: "Nach meinen Informationen wurden sie alle erschossen und ertränkt." Guck ruhig bis ganz zum Schluss durch...

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Im Weltmaßstab ist Russland weit hinterher und dem US-Imperialismus im großen und Ganzen ziemlich unterlegen, und deshalb greift das russische Regime zu den Formen des "hybriden" Kriegs. Wir als Sozialrevolutionäre würden doch weder der einen noch der anderen Form der imperialen Herrschaft irgendeine Sympathie schenken.
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Irgendwie fehlt mir in deiner Aufzählung der deutsche EU-Imperialismus... Den gibt's nich oder wie?
USA, EU und RU haben jeweils eigene imperiale Interessen in der Ukraine. Keine dieser Formen von versuchter imperialer Herrschaft oder Einfluss weckt Sympatien in mir, ebensowenig bei Aktivisten der Borotba.
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Außerdem, wo ist die Stimme von "uns Sozialrevolutionären" angesichts der Katastrophe in Griechenland? Sogar bürgerliche, keynesianische Ökonomen wie Flassbeck haben ein kritischeres Verständnis der deutschen Rolle im ökonomischen Feldzug gegen die Arbeiter im Süden der EU. Wo ist die Stimme der "Sozialrevolutionäre", die z.B. kritisiert, dass "wir" Millionen über Millionen in ein Pleiteland außerhalb der EU pumpen, während "wir" das EU- und NATO-Mitglied Griechenland in den Abgrund treiben?
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Sollten wir nicht erst einmal "vor der eigenen Haustür kehren"?
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Die deutsche Linke zeigt viel zu viel Sympathie für die deutsche neo-imperiale Herrschaft in der EU, und ihre Aspirationen darüber hinaus...
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So, das war's. Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht und du kannst was damit anfangen.
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Viele Grüße

- Flamingo



Grüß dich Kollege / Kollegin / Kolleg_x,

hier der Flamingo. Ich hoffe, du hattest noch ne erfüllende Zeit in Buxtehude und bist gut in Musterstadt angekommen.

Ist eine etwas längere mail geworden, aber ich denke, diese sieben Minuten lohnen sich ;)

Zunächst das angekündigte Video mit Varoufakis, wo er sein Buch "The Global Minotaur" vorstellt und sich anschließend zur EU-Krise äußert, das berühmte mit dem Stinkefinger (der kommt ab min 40:00 etwa). Diese Stunde sollte man sich ruhig mal Zeit nehmen und dem Herrn zuhören, finde es sehr interessant, wie er als studierter Ökonom die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet und darstellt.
https://www.youtube.com/watch?v=MEUWxNifJJ8

Der Stinkefinger wurde ja zu nem Skandal hochgepeitscht, von Günther Jauch, BILD-Zeitung und co, worauf der Satiriker Jan Böhmermann ne ziemlich coole Kritik gebracht hat. Auch sehenswert, falls du es nicht schon kennst. Einfach was zum Lachen.
https://www.youtube.com/watch?v=Vx-1LQu6mAE

Jetzt zum Hauptteil, warum ich so lange gebraucht habe, um mich zu melden. Ich dachte, is n bisschen sinnlos, einfach nur meine e-mail-Adresse rauszuhauen, also hab ich mich entschieden, gleich in die Debatte einzusteigen und ein paar Standpunkte nebeneinanderstehend zu präsentieren. Als Aufhänger hab ich mir die "Autonomous Worker's Union" ausgesucht, da ich praktisch nichts über sie wusste, während sie für dich ne wichtige Referenz sind.

Ich hab daher Sergei gebeten, mir den Link zu dem Text zu schicken, wo die AWU davon spricht, dass Poroshenko revolutionär sei, im Gegensatz zu Kolomoiskiy, der für die Konterrevolution stehe. Du erinnerst dich, oder? Voilà:
http://nihilist.li/2015/03/23/kontrrevolyutsioner-kolomojskij-i-ego-ruchny-e-patrioty/
http://avtonomia.net/2015/03/23/kontrrevolyutsioner-kolomojskij-i-ego-ruchnye-patrioty/

(nihilist.li scheint ein allgemein "anarchistisches" Portal zu sein, avtonomia.net das der AWU, aber die überschneiden sich inhaltlich vielfach.)

Der entsprechende Passus ist folgender, Textmitte etwa:
"Только к лету 2014 власть частично перешла к буржуазии как к классу. В этом смысле Порошенко является выразителем непоследовательной, но все же революционной линии, в отличии от Коломойского."

Übersetzung: (Es geht um die Entwicklung der ukrainischen Revolution, die zunächst unreif war, evoluierte, und in deren Verlauf) "erst im Sommer 2014 die Macht teilweise auf die Bourgeoisie als Klasse übergegangen ist. In diesem Sinne ist Poroshenko ein Vertreter der - wenn auch widersprüchlichen, so dennoch - revolutionären Linie, im Unterschied zu Kolomoiskiy."

Der Text ist enstanden vor dem Hintergrund von Kolomoiskiy's versuchter Übernahme von Ukrtransnafta,
http://www.heise.de/tp/artikel/44/44464/1.html
und die analytische Grundannahme in der Argumentation ist, dass in der Ukraine ein Wandel von einer "bürokratischen Gesellschaft" in eine "bürgerliche Gesellschaft" stattfinde, was die Vorbedingung für eine "wirkliche Revolution der arbeitenden Klassen" sei... Und Kolomoiskiy agiere weiterhin im Muster der "bürokratischen Gesellschaft", welche Poroshenko hingegen schon überwunden habe.

Es gebe in der UA drei Kräfte: Einmal die mit der Revolution verbundenen "bürokratischen" Kräfte (à la Kolomoiskiy), die jetzt als Bremse der Revolution wirken (konterrevolutionär), aber gezwungen sind, mit der zweiten Kraft, dem bürgerlich-liberalen Lager der Revolution, zusammenzuarbeiten. Auf der anderen Seite der ATO-Frontlinie (also die Rebellen, Separatisten, wie auch immer) stehe die dritte Kraft, die Reaktion, die nicht bloß zurück in Janukowitsch's Zustände will (was die "Bürokraten" wollen, bloß mit dem Unterschied, dass sie nun das Sagen hätten), sondern ins 18. und 19. Jahrhundert, als "die Ukraine eine absolut rechtlose russische Kolonie gewesen" sei.

Außerdem geht's noch um Patriotismus (Kolomoiskiy ist einer der wichtigsten Finanziers der "Patrioten" [darauf spielt auch der Titel an: "Kolomoiskiy und seine 'handlichen' Patrioten"]), um das strukturelle Zusammenspiel von "Konterrevolutionären" und "Reaktionären", und so einiges mehr, siehst ja, ist relativ lang. Ich weiß nicht, inwiefern google-translator den Text adäquat übersetzen kann, das zuvor wiedergegebene ist jedoch recht genau übersetzt der Kerngedanke, auf dem alles andere (auch in weiteren Texten) aufgebaut zu sein scheint.

Der Autor ist W.Z., und ich hab mal auf den Autor geklickt (geht nur bei nihilist.li), um mal zu sehen, was er noch so schreibt. Hier z.B. verteidigt er Poroshenko direkt vor "idiotischen" Angriffen und Kritik, spricht allen Ernstes davon, dass er "kein Verräter des Vaterlandes" sei, sondern endlich wieder ein fähiger Staatenlenker, ein "Profi im Amt".
http://nihilist.li/2014/09/26/ukraina-bez-poroshenko/

Da hatt ich ehrlich gesagt keine Lust weiterzulesen... Ich muss zugeben, dass ich das für ziemlich wirres Zeug halte, was der schreibt... Und nicht nur er.

Hier, den Kommentar zum Mord an Oles Buzina fand ich auch äußerst aufschlussreich:
http://nihilist.li/2015/04/17/na-smert-olesya-buziny/
Is n anderer Autor (Shiitman), und er schreibt gegen eine Empörung à la "Je suis Charlie". Buzina sei ein Arsch gewesen, keine Träne wert. Wenngleich der Mord an ihm nicht richt richtig ist, so wäre eine Solidaritätsbekundung im Namen der "Freiheit des Wortes" ebenso falsch. Der Artikel schließt mit den Worten: "Buzina war unser Feind. Er ist tot, aber seine Ideen leben weiter. Besser wäre es andersherum."

Nicht ein kritisches Wort über das nationalistische Klima, dem er zum Opfer gefallen ist, oder so was... Ganz im Gegenteil.

Buzina war schon ein merkwürdiger Kauz, ja, aber durch und durch harmlos. Ziemlich exzentrisch und eigenwillig, lief oft in Uniformen der "Weißen Armee" rum, weshalb er im Text gar als "Weißgardist" bezeichnet wird. Gleichzeitig aber war Buzina sehr gebildet und meiner Ansicht nach politisch gar nicht klar zuzuordnen - mal abgesehen davon, dass er eine "pro-russische" Position hatte, was auch der eigentliche Grund ist, warum er diesem Shiitman als Feind gilt...
Und warum er letzten Endes auch umgebracht wurde! Shiitman's Gerede von "er war Sexist" etcetera ist angesichts des Mordes und der Umstände einfach nur billig. Mindestens.

Überhaupt kann ich dieses "pro-russisch" nicht ausstehen. Das trifft überhaupt nicht den Kern dessen, was viele als solche titulierte Menschen und Gruppen ausmacht. Buzina z.B. hatte eine explizit pro-ukrainische Position, nur eben anders verstanden, als es in der Ukraine gerade angesagt ist...

Das gleiche trifft zu für Anatoliy Shariy, den kennste wahrscheinlich nicht einmal. Ich behaupte mal, er ist der bekannteste ukrainische Journalist überhaupt. Der ist 2012 vor dem Yanukowitsch-Regime geflohen und hat politisches Asyl in der EU gekriegt, mitsamt speziellem Schutz-Status (anonymisierte neue Identität und Aufenthaltsort, nach eigenen Angaben lebt er in den Niederlanden) - was das Ausgabeland Litauen ihm nun aber wieder entziehen will: Yanukowitsch ist ja jetzt weg, alles wieder gut in UA...
Eine Entziehung seines Asylstatus' mit Rückführung in die UA wäre jedoch für Shariy ein Todesurteil, ohne Übertreibung.

Shariy ist kein Linker, eher so bürgerlich-liberal, um Objektivität bemüht, recht unideologisch, und definitiv pro-ukrainisch und pro-"europäische Werte". Aber in UA gilt er als "Agent Putins", weil er ein scharfer Kritiker der gegenwärtigen ukrainischen Regierung und vor allem der Medien ist. Der Berater des ukrainischen Innenministers Anton Gerashenko hat letztens verkündet, dass er den Terrorismus unterstütze, und daher alle, die bei Videos von Anatoliy Shariy "Gefällt mir" anklicken, anhand ihrer IP-Adresse ausfindig gemacht würden... Ich glaub, Shariy hat noch nie so viele "Likes" gekriegt, wie unter dem Video, wo er sich darüber lustig macht...
https://www.youtube.com/watch?v=T0T_LcxUz48

Videos macht Shariy jeden Tag so zwei, drei, vier Stück. Meist entlarvt er Fakes, aber nicht nur. Hier z.B. hat er Bekannte in Kiev gebeten, mit versteckter Kamera in Buchhandlungen nach Büchern des ermordeten Oles Buzina zu fragen. Im ersten und im dritten Laden heißt es, dessen Bücher seien nun verboten, die kriegt man nicht mehr, im zweiten heißt es schlicht, sie hätten nie seine Bücher geführt (was ich mir nicht vorstellen kann, aber gut...).
https://www.youtube.com/watch?v=RHToV1LPOWs
Shariy leitet das Video ein mit den Worten, dass es nicht reiche, einen Autor umzubringen, denn in seinen Werken lebt er ja weiter. Also muss man auch sein Werk vernichten... Ob's den "Anarchisten" Shiitman freut...?

Das nächste Video leitet Shariy ein mit (zusammengefasst): "Als mir diese Aufnahmen zugesandt wurden, dachte ich erst 'Das kann ich nicht veröffentlichen, das wird mir als Propaganda ausgelegt.' Aber dann dachte ich 'Was ist das für ein Land, wo Aufnahmen von zufriedenen Leuten und ein Aufruf zu Frieden und Dialog als Propaganda gelten?!'"
https://www.youtube.com/watch?v=WHyUodr0chE
Ab 01:06 folgen dann Aufnahmen aus dem "Zentrum der Reaktion" (W.Z.): Donezk. Am Jahrestag des Referendums über die Unabhängigkeit.
Die Jungs am Anfang sagen: "Wieso soll ich sagen, dass wir besetzt sind? Von wem? Von unseren Freunden, Vätern und Brüdern? Das sind unsere Leute. Von wem wollen sie (Kiever Truppen) uns befreien? Wir sind frei." usw... Dann gibt es noch Aufnahmen vom Volksfest, Konzert, usw...

Shariy geht da ziemlich offensiv ran: Für ihn ist die Krim Teil der Ukraine und wird es immer bleiben, ebenso der Donbass. Die Leute dort hätten halt nur andere Ansichten, so was müsse man aushalten können.
Schade, dass du kein Russisch kannst, um dir einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Es gibt zwar auch einige untertitelte Videos, aber die Auswahl ist sehr auf den bewaffneten Konflikt beschränkt, was den kleinsten Teil der Masse an Videos von ihm ausmacht... Die drei verlinkten sind recht aktuell, aus den letzten fünf Tagen, wenn du Lust auf mehr hast, sag bescheid, ich such dir n paar Perlen raus, mit (Grob-)Übersetzung. Seit Monaten schon guck ich dessen Kanal regelmäßig, ist eine der besten Quellen zur UA.

Und ganz ehrlich, dieser ganz und gar nicht linke Shariy hat mehr anti-autoritären und freiheitlichen, unabhängigen Esprit und Verstand als diese ukrainischen "Anarchisten". Hat auch einen deutlich stärker ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit und ist insgesamt wesentlich näher dran an den "arbeitenden Klassen" als sie. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch ihn als "Feind" betrachten. (Die Suche nach "Шарий" bei nihilist.li ergab leider keine Treffer, kann es also nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen.)

Insgesamt gibt es so einiges an diesen "Anarchisten" zu kritisieren. Hab etwa ein Dutzend derer Texte (quer-)gelesen. Die sind sehr ideologisch, und ziemlich unkritisch auf die derzeitige offizielle Linie der ukrainischen Politik ausgerichtet (das ist jetzt recht polemisch von mir, denn es gibt durchaus auch kritische Töne, natürlich, aber ich finde sie irgendwie mager...).
Auch die Spaltung im Land wird komplett ausgeblendet. Bzw., nein, nicht ausgeblendet. Sie beteiligen sich aktiv an dieser Spaltung: der Chauvinismus gegenüber den "Watniks" (zu Deutsch so viel wie "Prolls", so werden die "pro-russisch" orientierten Ukrainer pejorativ genannt) wird von denen reproduziert. Sie teilen offensichtlich dieses "Freund-Feind"-Schema der ukrainischen Nationalisten, nur nennen sie es anders. Ebenso verlieren die kein Wort über die geopolitische Dimension des Konflikts...

Ich hab keine Lust, über die abzulästern, aber ich finde so einiges problematisch an deren Positionen... Je nach Text, mal mehr und mal weniger. Bei vielen Sachen sag ich auch "Jo, gut ausgedrückt.", nur steht das oft vor nem (tendenziellen) Hintergrund, wo ich denke "Oh mein Gott..."

Naja, soviel für heute. Bin gespannt auf deine Antwort.

Viele Grüße aus Buxtehude
- Der Flamingo







Flamingo